Bücherclub

Bedeutsame Schriftsteller – da blitzen sogleich Erinnerungen an den Deutsch-Unterricht in der Schule auf. Wer kennt sie nicht? Goethe, Schiller, Kleist, Lessing, Schnitzler… die Liste ist lang. Doch nicht wenige der besten Schriftsteller finden keine Beachtung und geraten in Vergessenheit. Ihre Werke überleben sie. Sie warten darauf, wiederentdeckt zu werden und uns in ihren Bann zu ziehen. Tief schlummernd hegen sie das Schattendasein eines Geheimtipps unter Kennerkreisen. Der VDS Bücherclub widmet sich jenen Werken und nimmt sie unter die Lupe. Was macht sie so magisch? Wer waren ihre Autoren? Warum reichte es nicht zur Bedeutsamkeit?

Ein solcher Schriftsteller ist Leo Perutz (1882-1957). In den Zwanzigern genoss der Wiener aufstrebende Bekanntheit, bis der Nationalsozialismus sein Vergessen einläutete. Aufgrund seiner jüdischen Abstammung war er gezwungen, aus seiner Heimat zu fliehen und ein Dasein im Exil zu fristen.

Der Wiederentdeckung Perutz’ hat sich der Kurzgeschichtenverlag Brot und Spiele mit der Veröffentlichung eines Sammelbandes von vier seiner Geschichten verschrieben. Im Verlaufe eines Monats haben sich 20 Mitglieder des Jungen VDS der Analyse dieser Kurzgeschichten gewidmet. Unter Anleitung des Herausgebers Dr. Max Haberich arbeiteten sie Besonderheiten in Perutz’ Schreibstil und Erzählstruktur heraus. Dabei untersuchten sie die Kurzgeschichten hinsichtlich vier Analyseschwerpunkte, um schlussendlich eine Einschätzung über ihre Aktualität und zeitgemäße Relevanz zu treffen.

Eine Auswahl der entstandenen Analysen ist hier veröffentlicht. Die vorgegebenen Analyseschwerpunkte sind im entsprechenden Dokument einsehbar. Im Vorwort zieht Dr. Haberich einen Querschnitt zu Perutz’ Leben und erlaubt einen Einblick in die Qualitäten, die dessen Geschichten zu wahren Geheimtipps machen.

Alle Seitenverweise in den folgenden Analysen beziehen sich auf den Sammelband des Brot und Spiele Verlags:

Perutz, Leo, Der Tag ohne Abend hg. von Haberich, Max (Wien: Brot und Spiele, 2022).

In den Geschichten von Leo Perutz (1882-1957) kommt die geschliffene Beobachtungsgabe der menschlichen Psyche zur Geltung, wie sie nur ein Versicherungsmathematiker beherrschen kann. Als er 19 war, siedelte seine Familie nach Wien um, wo er nach dem Militärdienst mathematische und wirtschaftliche Vorlesungen hörte. Zunächst arbeitete Perutz bei der Assecurazioni Generali, für die auch Kafka tätig war. 1908 kehrte er nach Wien zurück. Mit dem Roman Die dritte Kugel (1916) feierte Perutz seinen ersten Erfolg. In den Zwischenkriegsjahren befand er sich dank seiner Romane Zwischen Neun und Neun (1918) und Wohin rollst du, Äpfelchen…? (1928) auf der Höhe seines literarischen Ruhms. 1938 emigrierte Perutz mit seiner Familie und ließ sich in Tel Aviv nieder. Nach dem Krieg verbrachte er die Sommermonate immer wieder im Salzkammergut. Er starb am 25. August 1957 in Bad Ischl.

Daniel Kehlmann nennt Perutz den „großen magischen Realisten der deutschen Literatur“. Niemand geringerer als Jorge Luis Borges machte sich für seine Übersetzungen ins Spanische stark. Perutz’ Geschichten weisen eine stilistische Klarheit auf, die an Arthur Schnitzler erinnert; und spannen einen chronologischen Bogen von Prag unter Rudolf II. über die letzten Jahre der Habsburger Monarchie bis in die Zwischenkriegszeit. Die überraschenden Wendungen in seinen Erzählungen treffen den zeitgenössischen Leser wie Ohrfeigen. Der mit höchstem handwerklichem Geschick komponierte Spannungsaufbau packt uns oft vom ersten Satz an und beweist, dass Perutz’ Werk in keiner Weise gealtert ist.

Der Kurzgeschichtenverlag Brot und Spiele hat einen Band mit vier Erzählungen von Perutz veröffentlicht, unter dem Titel Tag ohne Abend (2022). Die titelgebende Geschichte spielt in Wien um 1900 und zentriert auf ein Duell. Der Protagonist, ein Mathematiker, kann zwar seine Ehre, nicht aber sein Leben retten, und seine aller Wahrscheinlichkeit nach genialen Theorien gehen der Nachwelt verloren. Perutz gibt hier einen Denkanstoß zu kunstphilosophischen Überlegungen über früh abberufene Künstler.

Die erste Geschichte des Bandes, Der Tod des Messer Lorenzo Bardi, trägt sich in einer belagerten Festung der Renaissancezeit zu. Ein beim Bombardement Erblindeter weiß nicht, dass er sein Augenlicht verloren hat, und eine gewisse Zeit lang gelingt es seiner Geliebten, seine Illusion aufrecht zu erhalten. Aber nicht dauerhaft.

Die Hatz auf den Mond behandelt das Los eines gejagten Menschen, wie ihn Perutz immer wieder geschildert hat. Dessen Familie ist von dem Gedanken besessen, dass der Mond sie verfolgt, und in schicksalsschweren Momenten sogar den Tod herbeiführen kann. Zu Beginn noch von der Legende ironisch distanziert, verfällt der jüngste Spross dem Mondfluch schließlich selbst.

Den künstlerischen Höhepunkt des Buches bildet die Erzählung Pour Avoir Bien Servi, in der Perutz sein strukturelles Können entfalten kann: Die Rahmenhandlung spielt auf einem Dampfer während einer Überfahrt. In der Rückblende wird der Leser zunächst zu einer Annahme über die Charaktere verleitet, die sich jedoch als tödlichen Irrtum herausstellt. Diese unerwarteten Enthüllungen und das hohe Tempo sind typisch für Perutz’ Stil.

Seine Infragestellung der Erzählperspektive wie der Glaubwürdigkeit des Erzählers, wie sie hier deutlich wird, sind durch und durch modern. In dem kurzen Band Tag ohne Abend wurden repräsentative Beispiele von Perutz’ Erzählkunst gebündelt, die den Leser anregen sollen, sich weiter in sein Werk zu vertiefen. Denn Perutz’ phantastische, krimi-ähnliche Geschichten müssen unbedingt mehr gelesen werden.

Max Haberich

Wien, im Juli 2022

Sprache und Stil

  • Wie wird die Stimmung getragen: durch Adjektive oder atmosphärische Substantive?
  • Wie wird Ironie eingesetzt?
  • Welche Bedeutung hat die wörtliche Rede gegenüber der erzählten Handlung?

Struktur

  • Wie beginnt Perutz seine Erzählungen? Wie packend ist der erste Satz?
  • Wann beschreibt er Dinge, Personen, Stimmungen und warum? Ist für ihn Handlung wichtiger als Schilderung?
  • Ist der Spannungsaufbau in Perutz‘ Geschichten linear wie bei der klassischen Novelle, sprich: Einleitung – Aufbau – Höhepunkt – Auflösung, oder gibt es Brüche in der Handlungsentwicklung?
  • Ist Perutz‘ Einsatz von überraschenden Wendungen in der Handlung erfolgreich?

Charaktere

  • Wie wichtig ist die innere Entwicklung von Perutz‘ Charakteren für die Geschichte?
  • Was für Charaktere sind es: Einzelgänger? Fürsorgende Menschen? Eher Männer, Frauen oder beide?

Genre

  • In welches Genre – wenn überhaupt – sind Perutz‘ Geschichten einzuordnen: als Kurzgeschichte, (vom engl. „short story“, eher journalistisch und spannungsorientiert), als Erzählung (weder durch Umfang noch Struktur gebundene Handlung) oder als Novelle (traditionelle Form mit oben angeführtem Aufbau)

Lohnt es sich überhaupt, Perutz heute noch zu lesen? Wenn ja, warum?