Einleitung, oder: Das letzte Stündlein
Leo Perutz (1882-1957) war in den Anfängen sowie auf der Höhe seines literarischen Schaffens als Versicherungsmathematiker tätig, wobei seine Aufgabe unter anderem darin bestand, Mortalitätstabellen und darauf basierende Versicherungssätze zu berechnen. Dass der Tod eines Tages eintritt, bedarf keiner Statistik, wohl aber der Zeitpunkt und insbesondere die genauen Umstände. Letzteres muss die Phantasie des jüdisch-stämmigen Literaten derart beflügelt zu haben, dass einige seiner spannendsten Erzählungen, die 2022 beim Kurzgeschichtenverlag Brot und Spiele erschienen, verbunden sind durch ein Motiv: das spektakuläre Sterben.
Der Tod des Messer Lorenzo Bardi (1907)
Perutz weilte noch für ein Jahr in Triest und arbeitete bei der Assicurazioni Generali, dem größten Versicherungskonzern in der Habsburger Monarchie sowie im heutigen Italien, als diese eindeutig im Italien der Neuzeit angesiedelte Kurzgeschichte erschien. Gleich zu Beginn nimmt die Erzählung das Ende, den Tod als buchstäbliches Ende von allem, vorweg und scheint einen tragischen Verrat als Gipfel einer sagenumwobenen Heldentat anzukündigen: „Denn Lorenzo starb, im Herzen den schlanken, schimmernden Dolch der Madonna Giovannina, die er so liebte“ (S.5). Doch den Leser erwartet kein Heldenepos, wo die Handlung voranzutreiben stets in der Macht des Protagonisten liegt, sondern viel eher eine tragische Anekdote. Und zwar darüber, wie ein glückloser Umstand nach dem anderen immer schneller ineinandergreift, bis der Protagonist in der Falle sitzt und ihm, sinnbildlich für die Kapitulation vor dem nahenden Tod, bloß noch das Schwenken einer schwarzen Fahne bleibt. Die überwältigende, an einen Bewusstseinsstrom grenzende Beschleunigung, sowohl aus Sicht des Protagonisten als auch des Lesers, ist ein Merkmal der Literatur des Fin de Siècle. Sie zeigt sich zum einen am zügigen Schauplatzwechsel und zum anderen an der Informationsdichte, einschließlich der silbenreichen Figurennamen und der komplexen Schachtelsätze. Ähnlich komplex mutet dann erst auch der Schluss an, wo die Todesumstände und die Richtung des begangenen Verrats ganz anders waren. Erst bei der wiederholten und aufmerksameren Lektüre zeigt sich, was den Stil von Leo Perutz‘ Kurzgeschichten unverkennbar macht: Es gibt keine Informationsüberschüsse wie etwa bei naturalistischen Romanen, sondern ist wie bei einem Märchen – als das der Erzähler die Geschichte gleich zu Beginn charakterisiert – jedes Element motiviert und trägt, wie später von Vladimir Propp in der „Morphologie des Märchens“ (1928) beschrieben, zum Fortgang der Handlung bei.
Pour Avoir Bien Servi (1911)
Perutz war bereits für die Versicherungsgesellschaft Anker tätig (1908-1928), als diese Erzählung erschien, deren herausstechende Eigenschaft die Distanzierung vom Kernthema – Sterbehilfe – durch gleich drei Binnenerzählungen ist. Die erste Ebene ist die Erinnerung des namenlosen Erzählers an die Schilderung eines Dampferpassagiers. Die zweite Ebene ist eine Begebenheit zu jener Zeit als der Dampferpassagier J. Schwemmer noch in Paris weilte. Und die dritte Ebene ist ein Gerücht, das an J. Schwemmer herangetragen wurde, dass es sich beim eigentlichen Protagonisten der Erzählung um einen Agenten der russischen Regierung handle. Ein Gerücht, das der Binnenerzähler J. Schwemmer sogleich abwiegelt: „ich lege wenig Wert auf Mitteilungen dieser Art, denn solche Geschichten erzählt man sich von vielen meiner Landsleute, die aus irgendeinem Grund im Ausland leben“ (S.21), und so die Aufmerksamkeit des Lesers auf die falsche Fährte lockt, zumal kein sichtbarer Zusammenhang mit der ursächlichen Handlung besteht. Denn der eigentliche Protagonist – ein ehemaliger Kommilitone von J. Schwemmer – lebt in der absurden Angst, dass seine gelähmte Frau ihre Pistole wiederfinden und sich etwas antun könnte, woraufhin J. Schwemmer beschließt ins Schicksal einzugreifen und Sterbehilfe zu leisten. Seine Intervention endet in einer unerwarteten Wendung der Handlung (plot twist), worin das Gerücht von der Agententätigkeit des ehemaligen Kommilitonen wider Erwarten doch an Substanz gewinnt. Zeitgleich wird, zurückgerissen auf die Erzählebene der Dampferschifffahrt, der Vorname des Binnenerzählers als sprechender Name enthüllt: „nur die beiden lustigen Wiener Mädeln, die im Winkel mit der Dogge des Kapitäns spielten, begannen zu kichern und zu lachen, weil es sich während der Geschichte plötzlich herausgestellt hatte, daß der alte Herr, der sich sonst immer nur Herr J. Schwemmer nannte, Jonas hieß mit dem Vornamen. Jonas!“ Dem bibelfesten und im Altgriechischen bewanderten Leser zu Perutz‘ Lebzeiten musste die groteske Komik freilich nicht erklärt werden, doch heutzutage ist die Ambivalenz dieses bis in die 1970er Jahre kaum verbreiteten und seither unter den Favoriten für männliche Neugeborene rangierenden Namen nicht auf Anhieb ersichtlich: Denn im Hebräischen steht „Jonas“ einerseits für ein friedvolles Wesen oder für ein Geschenk Gottes, andererseits heißt es übersetzt aber auch „Zerstörer“ oder „Unterdrücker“.
Die Hatz auf den Mond (1915)
Nur ein halbes Jahr bevor der wegen Kurzsichtigkeit ursprünglich ausgemusterte Perutz im August 1915 doch noch den Kriegsdienst antreten musste, erschien diese Kurzgeschichte. Der Umstand, dass Perutz die Kriegsbegeisterung seiner Generation überhaupt nicht teilte, liefert bereits den Schlüssel zur Interpretation dieses Texts. Denn der Mond, genauer gesagt der Voll- und seltener der Blutmond, ist eine Metapher für den zyklisch wiederkehrenden Krieg in der Welt, wobei sich in einer „Hatz auf den Mond“ das Lebensgefühl des Fin de Siècle zeigt: die Lebensüberdrüssigkeit. Diese Erzählung ist nicht nur kritisch gegenüber dem Krieg allgemein, sondern kann durchaus als Schlüsseltext für die Ursprünge des seit 1914 tobenden Kriegs gelesen werden. So stehen die Protagonisten, der Herzog von Carragan und seine Frau Leonie, für das Kaiserpaar, Franz Joseph I. von Österreich und seine „Sissi“. Zu den Hinweisen auf Kaiserin Elisabeth gehört, dass auch Leonie ihr erstes Kind zu Grabe tragen musste und sich nie von dem Verlust erholt hat, dass auch Leonie den Herrscherhof ihres Mannes meidet und dass auch sie sich wiederholt in die Arme eines anderen flüchtet. Der Moment, als der Protagonist die Untreue seiner Frau aufdeckt, kann auch als das kriegsauslösende Attentat an der von Franz Joseph I. noch immer geliebten Sissi dechiffriert werden, während jener Augenblick, als der Herzog von Carragan den Tod durch die Hand des Liebhabers – den Oberst (eine Anspielung auf die der Kaiserin Elisabeth nachgesagte Liebschaft mit dem ungarischen Graf Andrássy?) – findet, ohne einen Nachkommen zu hinterlassen, sinnbildlich für das Ende der Monarchie steht. Dass der Krieg auch unabhängig von der jeweiligen Herrschaftsform mit blitzenden Waffen weitergeführt wurde, zeigt sich am Ende der Erzählung an der Anwesenheit des Mondes: „Der Nachtwind strich kühl durch das Zimmer, und durch das offene Fenster floß silbern das Licht des Mondes“ (S.43).
Der Tag ohne Abend (1925)
Leo Perutz war längst der Durchbruch als Schriftsteller gelungen, als er diese Erzählung veröffentlichte. Deren Protagonist Georges Durval kann sowohl als Perutz literarischer Doppelgänger als auch als Allegorie des Fin de Siècle interpretiert werden. Für die Doppelgänger-These sprechen die vielfältigen autobiographischen Bezüge: angefangen bei der Rückkehr 1908 aus Triest nach Wien und dem mühevollen Besuch des Gymnasiums, ferner die finanzielle Absicherung durch den Einstieg ins Familienunternehmen sowie die intellektuelle Unterforderung während der gesamten Ausbildungszeit (vgl. S.44-46). Dafür spricht auch, dass sowohl Perutz als auch Durval ihre Meisterstücke hinlegten, als der Tod ihnen im Nacken saß: Durval als Mathematiker mit Blick auf ein herannahendes Duell und Perutz als Literat angesichts des bevorstehenden Kriegsdienstes. Für die Allegorie-These spricht, dass der europäische Kontinent bis zur Jahrhundertwende, sowie am Vorabend des Großen Kriegs (Erster Weltkrieg), allerlei Innovationen hervorbrachte, deren Urheber die Früchte ihrer Arbeit bzw. das Lob für die kognitiven Meisterleistungen allzu oft nicht mehr ernten konnten. Viele Lebenswerke mussten, zum Leidwesen der gesamten Zivilisation sogar unvollendet bleiben oder sind allenfalls in Fragmenten überliefert, ähnlich den mathematischen Formeln von Georges Durval: „Seine letzte, abschließende Arbeit wird nicht zu finden sein. Sie ist verteilt auf die Rückseite einer Wäscherechnung, auf die Marmorplatte eines Kaffeehaustisches und auf ein kleines Blatt aus dem Notizblock, das der Wind verweht hat“ (S.59). Im gleichnamigen Erzählband „Der Tag ohne Abend“ ist dies, neben „Pour Avoir Bien Servi“, übrigens diejenige Geschichte, die eine Art Epilog enthält. Die anderen beiden Texte schlossen, poetisch gesprochen, in demselben Augenblick, als der tragische Held ebenfalls seine Augen schloss.
Fazit, oder: Zu Asche, zu Staub
Einer unpopulären Meinung zufolge hat der Tod an Schrecken gewonnen, seit er nicht mehr selbstverständlicher Teil unseres Lebens ist. Dass dies kein Bonmot, sondern grober Unfug ist, zeigt die allzeit berechtigte Aufregung in den Krisen- und Kriegsregionen dieser Welt. Zwar vermag die Allgegenwärtigkeit des Freundes Hein uns für fremdes Leid weniger empfänglich zu machen, doch wird sie uns niemals die Angst vor dem eigenen Ableben zu nehmen schaffen. Tröstlich ist nur der Gedanke, dass man seinen Mitmenschen im Gedächtnis bleibt – oder dass dem Gang vor den Schöpfer ein Spektakel vorausgehen könnte, das eine spitze Feder, gleich der von Leo Perutz, kunstvoll niederzuschreiben weiß.
Tatjana Kohler