Textanalyse zu Leo Perutz – Vanessa Chodor

Perutz‘ Sammelband „Der Tag ohne Abend“ zeigt vielerlei Besonderheiten auf, die in diesen prägnanten Analyseergebnissen zusammengefasst werden sollen. Inhaltlich beschäftigt sich das Werk mit vier kurzen Erzählungen, welche sich alle mit unterschiedlichen Handlungen und Charakteren auseinandersetzen. Dementsprechend fokussieren sie sich auch thematisch mit verschiedenen Feldern, was sich auch in der Narratologie widerspiegelt. Ich würde die Texte in erster Linie als Erzählungen klassifizieren, genauer als Kurzgeschichten, da diese sich durch
ihre sehr kurzen Inhalte voneinander abgrenzen.

Kommt es nun zu dem Erzähler, ist dieser nicht ganz so einfach zu benennen. Die
Mehrheit der Erzählungen haben einen heterodiegetischen Erzähler mit einer Tendenz zur Internfokalisation, fixiert auf den Protagonisten der Geschichte. Anknüpfend daran, ist es besonders interessant, dass der Erzähler zwischen den verschiedenen narrativen Ebenen (der extra-, intra- und metadiegetischen Ebene) hin und herspringt, und die Geschichten selbst als solche – als Erzählungen – reflektiert werden; „Ich habe diese merkwürdige Geschichte vor einiger Zeit im Salon […] gehört“ (S. 16) oder „Die Geschichte Georges Durval mußte erzählt
werden“ (58). Erinnernd an den Stil von Giovanni Boccaccios „Decameron“ ergibt sich, wenn man den gesamten Sammelband betrachtet, eine Ansammlung von Anekdoten, welche spekulativ von einem einheitlichen Erzähler an das Publikum weitergegeben werden. Als Ausnahme steht die Erzählung „Die Hatz auf den Mond“ durch einen homodiegetischen internfokalisierten Erzähler, welcher den eigenen Status als Geschichte nicht bekennt. Der Erzähler bedient sich konsequent Ausrufen und rhetorischen Fragen, was der einzelnen Erzählung den Schein einer Subjektivität bietet, trotz des Vorbehalts, dass es sich hier um eine nacherzählte
Anekdote handelt.

Der erste Satz eines Werkes, einer Erzählung, ist mit das wichtigste Element und muss gut überlegt sein. Kommt es zu den einzelnen Erzählungen, lässt sich eine Tendenz zu einer genauen Exposition der handelnden Personen und Orte erkennen, welche in erster Linie durch den reflektierten Erzähler zu Stande kommen. Wichtig anzumerken ist es, dass Perutz‘ Erzählstruktur nicht linear ist, was sich durch Anachronien widerspiegelt. Der Erzähler wechselt vermehrt zwischen Pro- und Analepsen hin und her, was die Erzählung zu der
folgenden Struktur veranlasst: Auflösung – Einleitung – Aufbau – Auflösung. Besonders die erste Erzählung „Der Tod des Messer Lorenzo Bardi“ ist dafür ein gutes Beispiel: „Doch dieses Märchen hat einen traurigen Schluß“ (5). Auch besitzen die Erzählungen Vorwegnahmen, die die Geschichten von einer ‚Was-ist-passiert?‘- zu einer ‚Wie-ist-es-passiert?‘-Struktur umwandeln; „Nun will ich Ihnen von jenem Tag erzählen, der mich zum Verbrecher gemacht hat“ (22). Der Fokus der Erzählungen liegt vermehrt auf der erzählten Handlung als auf Figurenrede, was besonders in „Die Hatz auf dem Mond“ zu erkennen ist. Bloß wenige Stellen
verleihen dem Text eine szenische Wirkung durch wörtliche Rede (vgl. S. 48f.), was sich daraus zu resultieren scheint, dass Perutz‘ sich viel mehr auf eine zeitraffende Narration konzentriert. Der Erzähler scheint sich zudem vermehrt durch indirekte Rede auszuzeichnen, was die Erzählhaltung distanziert.

Perutz‘ Erzählungen tendieren zu einem männlichen Personell. Die Protagonisten,
sowie die Mehrheit der Nebenfiguren – von denen es keine große Anzahl gibt – sind vorwiegend Männer, gekennzeichnet von einer charakterlichen Schwäche, die die Motivation ihrer Handlungen liefert. Wechseln tun diese Charaktere zwischen reflektierten Figuren (vgl. „Pour Avoir Bien Servi“ und „Der Tag ohne Abend“), und Figuren, welche zum Ende der Erzählungen in einen negativen Abgrund fallen (vgl. „Der Tod des Messer Lorenzo Bardi“ und „Der Tag ohne Abend“). Durch die prägnante Länge der einzelnen Texte, trotz vermehrter Zeitsprünge, kommt es zu keinen charakterlichen Entwicklungen der Protagonisten. Kommt es nun zu den weiblichen Figuren, kann gesagt werden, dass diese die Erzählung primär bloß als
passive Nebencharaktere schmücken. Vom Erzähler werden ihnen meistens Attribute der Schönheit zugeschrieben (vgl. S. 46). Als Opposition dagegen steht die Frau des Herrn J. Schwemmer (vgl. „Pour Avoir Bien Servi“), welche als kränkliche Frau im Rollstuhl beschrieben wird (vgl. S. 18). Zwar nimmt diese Figur innerhalb der Erzählung viel Zeit und Raum ein, doch wird ihr kein Name gegeben – sie scheint bloß der Erzählung als handelndes Objekt beizupflichten.

Nun die abschließende Frage: sollte Leo Perutz‘ weiterhin gelesen werden? Ich finde ja. Gerade die Narratologie ist besonders interessant und bietet einen deutlichen Anspruch für eine Analyse und weitere Forschungsansätze.

Vanessa Chodor