Pauli, Werner: An den Lenz u.a.

Mein Dichten

Der Stoff sucht selbst sich seine Form
für Melodie und Rhythmus des Gedichts.
Wohl auszuweichen gilt`s bewährter Norm
und Zug zu wahren eigenen Gesichts.

Nach Jambus oder Distichon
und Mode nicht ruft mein Poetensinn.
Ich scheuch` bekannte Wendungen davon
und geb` mich lieber neuem Bildklang hin.

Zwar scheu` ich auch Vertrautes nicht,
wo schön ein Bild mit Inhalt, Form sich deckt;
nicht „l`art pour l`art“ hat mir Gewicht,
doch, was wahrhaft, geistvoll, was Freude weckt.

Weil Leben nicht hält Blumen nur
und Sonnenschein dem wachen Geist bereit,
zieht Ernst auch durch mein Dichten seine Spur
in Reim und Rhythmus stoffgerechtem Kleid.

So lausch` ich dankbar edlem Klang
und freu` mich doppelt, wenn ein Echo hallt
in meiner Brust. – Ach, himmlischer Gesang!
Mir löst es Wort und Sinn – Kraft, nicht Gewalt!

Werner Pauli, 1996

Frau auf der Brücke

Leicht ruht die Hand am Brückenstein,
ihr Auge folgt dem Flusse.
Schräg fallen Sonnenstrahlen ein
Zum heitern Wellenkusse.

Heut` zeigen Strauch und alter Baum
lichtfrische Grüngirlanden:
Dem Leben ist aus Wintertraum
verjüngt der Tag erstanden!

Die Luft trägt Frühlingsgrüße her
und hin von tausend Stimmen;
mit Wolken, weiß in blauem Meer,
wetteifernd Schwäne schwimmen.

Flußaufwärts blickt gedankenvoll
ein rasches Rückbesinnen,
fragt wie von fern, was kommen soll,
wenn Jahre flußverinnen.

Der Wind streicht zärtlich ihr durch`s Haar,
probt leise Harfentöne,
beschwingt ihr neues Lebensjahr
in Blütenlust und Schöne.

Der Lenz hat Rosenflor gelegt
auf ihre hellen Wangen –
hat nicht die Lippe dankbewegt
Zu beben angefangen?

Fern prangt ein lichter Horizont –
Ein Tag wie Liederklingen!
Noch wird ein Abend nicht besonnt:
Es bleibt noch viel zu singen …

Werner Pauli, 1996

 

Oktobermond

Auf der Brückenmitte
zwischen den Zeiten
hält die Oktobernacht
den reinen Atem an:
Schritte verschmelzen
lautlos in der Umarmung
von Wega und Orion
unterm Sternenmantel
des vollen Mondes.
Und im leisen Rauschen
des nachtglänzenden Flusses
schwinden Raum und Zeit
zu fernen Horizonten
beim Zauberkusse
des nahenden Morgens.

Werner Pauli, 1987