Es war einer dieser dunklen Abende am Chiemsee. Alpen und See verschwammen zu einem dunklen Nebel und man konnte tatsächlich Berge und See nicht mehr unterscheiden. Die wenigen Boote, die sich trotzdem auf den See hinauswagten, hatten ihre kleinen Radargeräte an. Kein Verleger und keine Zeitung hatte mich dazu gedrängt, aber ich saß an dem Abend im Restaurant vom Wassermann, sah in die pechschwarze Dunkelheit, in der man weder See noch Berge unterscheiden konnte und arbeitete n einer Weihnachtsgeschichte.
Vor mir lag ein weißes Blatt, und ich hatte eben den Stift angesetzt, um das erste Wort zu schreiben, als ich eine besondere Energie in dem Punkt spürte, den mein Füller auf das Papier machte. Auch wenn man noch nichts sehen konnte, und ich schwöre, es war nichts zu sehen, außer einem winzigen Punkt, so war doch bereits in diesem Punkt die ganze Geschichte auf dem Papier. Dann aber lief mein Füller wie von selbst und beschrieb Nikolaus mit dem Christkind. In dieser Gegend beschenken Christkind und Nikolaus zu Weihnachten die Kinder. Er ist der gestrenge Weltenrichter, der aus seinem Buch die guten und bösen Taten vorliest. Begleitet werden sie vom Pelzmattel, einer dunklen Gestalt in Pelz gehüllt.
Diese Beschreibung des Christkindes und des Nikolaus lief mir wie von selbst aus der Feder, und es wunderte mich nicht, dass plötzlich ein Bild von den Beiden auf dem weißen Papier zu sehen war. Ich selber hatte doch dieses Bild mit Worten gemalt und die beiden sahen mich an, als wollten sie mir zublinzeln. Aber sie konnten es nicht, sie waren ja nur ein Bild, gemalt von einem ungelenken Stift.
Sicher hatte der Pelzmatel seine Hand im Spiel, als die beiden plötzlich vor mir saßen. Das Restaurant hatte sich vollständig geleert, weil im anderen Saal eine Nikolausfeier für die Kinder begann. Jetzt konnten sie mir zublinzeln, und jetzt konnten sie auch sprechen. „Danke“, sagte das Christkind, „dass du uns aus den himmlischen Dimensionen hergeholt hast.“ Ich sah erstaunt von meinem weißen Blatt auf. Eben noch war die Beschreibung auf meinem Papier, aber jetzt saßen sie vor mir. Nikolaus lachte. „Ist Schriftsteller und weiß nichts von den himmlischen Dimensionen? Es ist nicht so einfach in eure Welt zu kommen, in eine Welt, in der nur vier Dimensionen herrschen.“ „Raum und Zeit, das sind unsere Dimensionen“, sagte ich. „Etwas anderes können wir uns auch gar nicht vorstellen.“ „Deshalb war es auch so schwierig herzukommen“, sagte das Christkind. „Du hast uns hergebracht, erst eine, dann zwei und nun drei Dimensionen. Das reicht aber auch. Du musst aufpassen.“ Ich sah die Beiden an und kratzte mich am Kopf. „Und jetzt?“ „Jetzt gehen wir los, die Kinder zu beschenken. Wir gehen gemeinsam von Hof zu Hof, bis alle Kinder beschenkt sind, an die heute niemand gedacht hat.“ „Wer bin ich?“ „Du bist der Pelz“, sagte das Christkind und hielt mir seine Hand entgegen. Da spürte ich, wie mir im Gesicht ein langer Bart wuchs, wie meine Haare auf den Tisch herunterhingen und mein neuer Anzug zu einem alten Sack wurde. Christkind lachte über mein Erstaunen. „Du weiß nicht, wer der Pelz ist?“
„Ich denke, das ist eine keltische Gottheit“, wagte ich zu antworten. Die Beiden sahen sich an. „Nicht schlecht für einen Schriftsteller“, meinte Nikolaus. „Er versteht, wo er hier ist.“
Meine Hände suchten über dem Tisch nach einem Halt und fanden meinen Terminkalender. Er lag dort ganz dick und neu für das neue Jahr. So richtig geschaffen, dass die unruhigen Gedanken, die man sich ja auch in diesen Tagen macht, Platz finden konnten an den Haltepunkten, die das neue Jahr bereits vorgab. „Vorsicht“, sagte Nikolaus. „Wir haben noch viel zu tun. Die Zeit läuft uns sonst davon.“ Ich schaute ihn an und verstand ihn nicht. „Drei Dimensionen haben wir geschafft“, sagte das Christkind. „Die vierte brauchen wir noch nicht. Sie ist der Feind eines jeden Geschöpfes.“ „Sofern es nicht eine Unendlichkeit vor sich hat“, sagte Nikolaus. Ich sah die beiden nachdenklich an. „Durch drei Dimensionen“, sagten sie, „sind sie zu mir gekommen.“ Aus dem Punkt in die Fläche und aus der Fläche in den Raum. „Warum kommt ihr nicht einfach so?“, fragte ich. „Weil uns dann niemand bemerkt“, sagte Nikolaus. „Erst durch das Wort werden wir sichtbar.“ „Das Wort ward Fleisch?“, fragte ich. „So wie es der Johannes schreibt? So wie es am Weihnachtstag gelesen wird?“ „Genauso!“, bestätigte das Christkind mit seiner hellen, glockenreinen Stimme. „Aber nun kommt und begleitet uns, denn es wird Zeit.“ Ich schaute nach dem Kellner, aber meine Hand lag immer noch auf dem Terminkalender und ganz in Gedanken blätterte ich die Seiten mit dem Daumen durch.
„Die Zeit!“, rief das Christkind. „Um Gottes Willen“, rief Nikolaus, und man hörte, dass er es genauso meinte. Um uns herum blieb alles still, aber vor den Fenstern änderte sich das Bild in steter Folge. Mal erschienen Schneeberge, dann verschwanden sie wieder. Dann aber waren die Bäume plötzlich voller Blüten. Von einem Tag zum anderen verschwand der Schnee und die Blüten brachen auf. „Stopp!“, sagte Nikolaus so befehlend, dass meine Hand innehielt. „Nicht die Hand bewegen!“, ergänzte er, „Sonst können wir nicht mehr zurück.“ Ich hielt die Hand ganz still. Draußen sangen die Vögel. „Was ist das?“, fragte ich. „Die Zeit“, sagte das Christkind. „Durch deine Hand ist die Zeit so schnell vergangen, und nun ist Frühling. Was sollen wir nur hier? Noch nie habe ich so schöne Blüten gesehen, noch nie habe ich die Vögel singen gehört.“ „Still“, sagte Nikolaus. „Wir müssen zurück. Was werden die Leute denken? Einsperren wird man uns, wenn im Frühjahr Christkind und Nikolaus durch die Straßen laufen. Das darf einfach nicht sein.“ „Wenn wir den Stern ablegen?“, fragte das Christkind. „Ich kann meine Sachen nicht ablegen“, sagte Nikolaus. „Ich bin für den Winter angezogen. Ein Nikolaus im Frühjahr in langen Unterhosen unter den blühenden Bäumen.“ Ich musste lachen und hätte fast den Daumen weiterlaufen lassen. „Es geht nur zurück“, sagte Nikolaus in dem Befehlston, den man an ihm gewöhnt ist. Zurück!“ „Aber wie?“, fragte ich. „Lass die Seiten durch den Daumen zurücklaufen“, sagte er. „So wie eben, nur rückwärts!“ „Ich will es versuchen“, sagte ich. Langsam liefen die Seiten liefen zurück. Die Blüten wurden wieder zu Knospen, Schnee fiel, Schneeberge lagen und verschwanden vor dem Fenster. Es wurde dunkler und dunkler, bis wir wieder am Dreikönigsabend im Licht der Kerzen zusammensaßen.
„Wir müssen zurück“, sagte Nikolaus. „Unsere Zeit ist um.“ „So schnell?“, fragte ich.
„Schnell?“, fragte Christkind. „Du hast selbst erlebt, wie schnell die Zeit vergeht.“
„Ich werde nie wieder so schnell durch meinen Kalender gehen“, versprach ich. „Wie soll es nun weitergehen?“ „Die Nacht ist vorgedrungen“, sagte das Christkind. „Wir können nicht mehr auf die Höfe gehen. Die Kinder werden traurig sein, aber die Eltern werden sie sicher beschenken. Wir müssen zurück, und du musst uns helfen.“ „Warum ich?“, fragte ich erstaunt. „Im Frühling konnte ich euch nicht lassen, das habe ich verstanden, aber könnt ihr nicht so einfach in die Weihnacht zurückgehen.“ „Nein“, sagte Nikolaus. „Du hast uns geholt, und du musst uns auch zurückbringen.“ „Und wie?“, fragte ich. „Schau auf dein Blatt und konzentriere dich darauf.“ Sein Befehlston war so klar, dass ich natürlich tat, was er sagte. Ich schaute auf das Papier. Plötzlich waren sie wieder auf dem Papier, so wie ich sie eben noch vor mir gesehen hatte. Das Christkind schien mir zuzwinkern zu wollen, aber das ging natürlich zweidimensional nicht mehr. Die Chance war vertan. Und nun?
Ich setzte meinen Füller an, und aus dem Bild wurde wieder Schrift. Ich sah nur noch eine Möglichkeit, die Sache zuende zu bringen und fuhr langsam mit dem Füller die Buchstaben zurück. Tatsächlich saugte der Füller die Tinte wieder ein. Ein gutes Gefühl überkam mich. Ja, ich war dabei, die beiden zurückzubringen, dahin, wo sie hergekommen waren.
Sorgfältig fuhr ich die Buchstaben nach, bis nur noch ein Punkt auf dem Blatt zu sehen war. Ich hätte schwören können, dass ich in diesem Augenblick zwei winkende Hände sah, die Hand vom Nikolaus und die Hand vom Christkind. Aber der Kellner lenkte mich ab.
„Möchten Sie noch etwas“, fragte er genau in dem Augenblick, als die Beiden endgültig und für dieses Jahr verschwanden. Ich sah auf. Der Kellner stand neben mir und beugte sich dienstbeflissen vor. „Wir schließen gleich und Sie haben noch keine Zeile geschrieben.“
„Doch“, sagte ich. „Eine ganze Geschichte. Haben Sie nicht eben den Nikolaus und das Christkind mir gegenübersitzen sehen?“ „Ich wollte Sie fragen, ob Sie noch einen Wein möchten“, sagte der Kellner, „aber vielleicht möchten Sie lieber einen Kaffee?“
Ich wollte aufbrausen, beherrschte mich aber und fragte: „In welchen Dimensionen leben Sie? Ein, zwei, drei oder gar vier?“ „Mein Leben hat nur zwei Dimensionen“, sagte er. „Volle Gläser und leere Gläser.“ „Dann kennen Sie auch Einstein nicht?“, fragte ich. „Nein“, sagte er und enthob mich damit der schwierigen Frage erklären zu müssen, warum Einstein keine Weihnachtsgeschichte geschrieben hatte.