Meinert, Hannah: Das Beste

Es war einer dieser Tage an denen die Schule ewig zu dauern scheint und es im Klassenraum so warm ist, dass der Schweißgeruch gar nicht zu vertreiben ist. Es war der erste warme Tag in diesem Jahr. Und an genauso einem Tag fragte mich mein bester Freund, ob wir zusammen ins Schwimmbad gehen sollten. Und weil es halt einer dieser Tage war, sagte ich ja. Schließlich hatte unser Sportlehrer uns gerade noch durchs Stadion gescheucht und eine Abkühlung kam mir gerade recht.

Erst zu Hause fing ich dann an mich richtig darauf zu freuen. Zum ersten Mal in diesem Jahr trug ich ein Kleid. Und vor allen Dingen: darunter einen Bikini! Fynn war ja auch wirklich nett, aber es machte mich nervös, dass ich mich noch nie mit ihm allein getroffen hatte. Und trotzdem konnte ich ihn meinen besten Freund nennen, weil er mich doch von allen am besten verstand, zumindest von den Jungs. Er war groß und schlaksig und trug zu allem Überfluss auch noch eine kreisrunde Brille. Er war alles andere als ein Weiberheld oder so. Er war durch und durch der Kumpel-Typ.

Und so lief er auch auf mich zu, mit seinen übergroßen Füßen, die in Chucks steckten, weil ihm sonst keine Schuhe passten. „Seine Mutter wird wohl seine Anziehsachen ausgesucht haben“, dachte ich.

Aber ich hatte mir geschworen, nicht danach zu urteilen, was er anhatte oder wie beliebt er war und das hatte ich durchgehalten.

„Hey!“, rief Fynn etwas zerstreut und beugte sich leicht zu mir hinunter, damit er mich umarmen konnte. „Mann, freu ich mich aufs Wasser!“

Ich erwiderte seine Umarmung leicht und musste mich auf die Zehenspitzen stellen.

Diesen Tag verbrachten wir zusammen. Das Freibad war sehr voll, überall waren Leute und jeden zweiten kannten wir. Das war in einer Stadt der Größe meiner Heimat auch eigentlich kein Wunder. Das Freibad war nicht sonderlich gut in Stand gehalten. Überall waren zwar Farbspritzer von Renovierungsarbeiten, aber nirgendwo war etwas zu finden, das in den vergangen zehn Jahren erneuert worden war. Das Freibad war auch nicht sehr sauber. Der kleine Kiosk war überfüllt, aber daneben gab es nur einen Mülleimer und der Müll lag über das ganze Gelände verstreut.

Und doch war das Freibad der beste Ort in unserer kleinen Stadt. Der Trick war, dass man sich sonst nirgendwo treffen konnte. Manche brachen im Winter sogar extra ins Freibad ein, um sich zu treffen.

Fynn und ich legten uns auf der Liegewiese in die Sonne und sprangen vom Sprungturm, der aussah, als könnte er jeden Moment zusammenbrechen. Wir hörten Pocketful of Sunshine und aßen Currywurst. Ich fühlte mich mit Fynn zusammen einfach wohl. Ich vertraute ihm. Ich vertraute ihm, dass er keine Hintergedanken hatte und dass er ehrlich zu mir war. Wir lagen in der Sonne und wir tauschten innerhalb der kürzesten Zeit unsere Lebensgeschichten aus und stellten fest, wie ähnlich wir uns waren. Es war der erste Tag, den wir wirklich zusammen verbrachten, ohne die anderen im Nacken, ohne die Lautstärke der Gruppe. Es war einer der geilsten Tage, die es in diesem Jahr bisher gegeben hatte. Gleich hinter Neujahr und meinem Geburtstag.

Als ich nach Hause kam war ich glücklich: Ich hatte einen schönen Tag verbracht und vor mir lag nur noch ein Tag Schule und ein langes Wochenende. Am nächsten Morgen zog ich die Rollladen hoch und die Sonne schien. Deshalb war ich zum ersten Mal seit langem morgens gut gelaunt. Ich zog mein Kleid an und freute mich, einfach, weil ich endlich ein Kleid anhatte.

Nach der Schule traf ich mich wieder mit Fynn im Freibad. Diesmal war ich weniger unsicher. Er war echt ein toller Freund. Ich konnte mit ihm über alles reden und an diesen zwei Tagen, die ich mit ihm verbracht hatte, war ich wirklich glücklich. Einen besseren besten Freund konnte ich mir gar nicht wünschen. Ich hatte wirklich tolle Freunde. Meine beste Freundin zum Beispiel: Sie konnte mich zu allem motivieren, sogar zum Sport!

Und kurz darauf war die schöne Zeit vorbei. Nicht, dass ich mich mit meinen Freunden gestritten hätte. Es war nur so, dass der Sommer, der Mitte Mai begonnen hatte, schon Ende Mai wieder vorbei war. Die Temperaturen stiegen kaum über zwanzig Grad und die Sonne kam nicht gegen die Wolkendecke an. Es war, als würde mein kleiner Bruder gegen einen Klitschko kämpfen: ein aussichtsloser Versuch. Und so gingen wir alle wieder zum Alltag über. Wir waren nicht mehr so enthusiastisch und taten das, was wir immer taten. Schule, essen, schlafen – Schule, essen, schlafen. Immer das gleiche graue Muster. Wir schienen uns regelrecht an die Farbe des Himmels anzupassen. All das änderte sich erst, kurz bevor die Sommerferien anfingen. Es wurde wieder wärmer. Und so rauften wir uns alle zusammen und unternahmen etwas. Wir fuhren gemeinsam weg, in größere Städte. Wir fuhren zum Baggerloch, das weit draußen im Wald lag. Und wir erlebten einige dieser Momente, die man am liebsten in ein Marmeladenglas sperren möchte, damit das Gefühl nicht verfliegt, weil selbst Fotos es nicht zurückbringen können. Zum Beispiel, als wir abends noch lange am Baggerloch saßen. Jan hatte ein Lagerfeuer gemacht und Mina und Marlon holten ihre Gitarren raus. Oder als wir uns alle in den Zug setzten und nach Köln fuhren. Jan brachte uns zu den coolsten Orten der ganzen Stadt. Wir machten Hunderte Fotos, weil wir einfach glücklich und albern waren, aber die Momente verflogen. Diese Momente, von denen man denkt, es gibt sie nur im Film, weil es eigentlich ein so Klischee ist. Aber es gibt sie.

An einem der letzten warmen Tage lud Leon mich zum Eis essen ein. Es war ein Typ aus meinem Sportverein, den ich schon ewig kannte. Wir gingen schon zusammen in den Kindergarten und zur Grundschule. Meine beste Freundin sagte noch: „Geh doch hin, der steht sowieso nicht auf dich.“ Und ich glaubte ihr. Lia besaß eine unglaubliche Menschenkenntnis.

Zwei Tage später – der Sommer war nun endgültig vorbei – gestand Leon mir, dass er schon ewig in mich verliebt war. Lias Menschenkenntnis war wohl nicht gut genug. Mit dieser Situation war ich völlig überfordert. Ich sagte ihm, ich wüsste nicht genug über ihn, um zu sagen, ob ich in ihn verliebt sei, obwohl ich ihn ja schon länger kannte als zum Beispiel Fynn. Und Fynn kannte ich in- und auswendig. Also traf ich mich öfter mit Leon, und es stellte sich heraus, dass er ein echter Traumtyp war. Er kochte sogar für mich, brannte mir eine CD mit Liedern, die ihn an mich erinnerten und hielt meine Nörgeleien aus. Ich hatte mich in nur wenigen Tagen bis über beide Ohren in ihn verliebt.

Ich traf mich auch weiterhin mit Fynn, aber er schien irgendwie… verändert zu sein. Unter seinen Simsen stand nicht mehr „Hab dich lieb“ sondern nur noch „Liebe Grüße“. Und mittlerweile kannte ich Fynn so gut, dass ich wusste, dass das etwas zu bedeuten hatte. Fynn mochte Routine und deshalb änderte er an seinem Verhalten nur selten etwas.

Als wir uns mal wieder trafen stellte ich ihn zur Rede.

„Fynn, du bist einfach anders, seit ich mit Leon zusammen bin. Was ist los?“

„Verdammt, natürlich bin ich in dich verliebt. Schon ewig!“, antwortete er.

„Ist das dein Ernst?“

„Ja, verdammt! Und du weißt genau, dass ich das Beste für dich bin!“

Und da beging ich den größten Fehler meines jungen Lebens und sagte: „Sag mal hast du einen Knall? Ich weiß selbst, was das Beste für mich ist und das bist definitiv nicht du, sondern Leon! Du spinnst doch! Verpiss dich!“

Und Fynn hörte auf mich. Er drehte sich um und ging, ohne auch nur einmal zurück zu sehen. Ich blieb auf der Mauer vor dem Freibad sitzen, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Und da packte mich die Erkenntnis: Ich würde Fynn nicht mehr wiedersehen. Er war gegangen. Als ich das merkte, passierte etwas, womit ich nie gerechnet hätte. Ich fing an zu weinen. Ich war so wütend, dass Fynn glaubte, er wäre so wichtig, aber ich war noch viel trauriger, weil ich wusste, dass er nie mehr wiederkommen würde.

In meiner Verzweiflung war ich so dumm, nicht zu Lia, sondern zu Leon zu gehen. Ich erzählte ihm alles. Ich ließ nichts aus und blieb bei der Wahrheit. Leon nahm mich in den Arm und unterbrach mich kein einziges Mal. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich wieder angefangen hatte, zu weinen.

Und da fragte Leon zum ersten Mal nach. Er sah mir genau in die Augen und sagte: „Du liebst ihn, oder?“

Ende

Über die Autorin: Hannah Meinert ist Schülerin im Willy-Brandt-Gymnasium in Oer-Erkenschwick. Als sie die Geschichte „Das Beste“ verfasste, besuchte sie die 8. Klasse. Jetzt arbeitet sie an ihrem ersten Roman.